Der Titicacasee lag leuchtend blau zu meiner Rechten, die Uferlinie nur eine verwaschene Kontur am Horizont.
Mir blieb allerdings keine Zeit, den Ausblick eingehend zu genießen. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken hetzte ich über einen schmalen Pfad über dem Wasser, um María zu folgen. Die ältere Frau mit ihren langen schwarzen Zöpfen legte ein unerwartetes Tempo vor. Dabei hatte sie sogar noch die Muße, ihre Spindel wie einen lebendigen Begleiter neben sich über den Weg hüpfen zu lassen.
Es war ein Nachmittag im September 2006 auf der Insel Amantaní im Titicacasee. Ich war im Rahmen einer zweitägigen Tour hier. Wenige Minuten zuvor hatte der Guide unsere Reisegruppe zur Übernachtung auf lokale Familien aufgeteilt. María war meine Gastgeberin. Sie hatte mich mit einem herzlichen Lächeln begrüßt, bevor sie mir bedeutet hatte, ihr zu folgen. Ich wollte mich gern mit ihr unterhalten. Doch auf meine bisherigen Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, hatte sich María eher einsilbig gezeigt.
»Sie glaubt, dass ich kein Spanisch spreche!«
Ob sie glaubte, dass ich als gringa sie anders nicht verstehen konnte? Der Gedanke stimmte mich traurig, und ich wollte ihr zu gern das Gegenteil beweisen. Schließlich war mein Spanisch gut – ich hatte nicht nur mehrere Jahre Schulunterricht als Basis, sondern war auch seit über einem Monat in Peru. Entsprechend hatte ich mir die lokale Sprachmelodie und einiges an typischen Ausdrücken angeeignet.
Während wir unseren Weg fortsetzten, versuchte ich es also immer wieder: Ich sprach María in möglichst langen und elaborierten Sätzen an, um ihr zu zeigen, dass es keine sprachliche Barriere zwischen uns gab.
Doch je mehr Mühe ich mir gab, desto knapper fielen Marías Antworten aus. Ich war ratlos. Und erst, als wir um die letzte Wegbiegung traten und zwischen knorrigen Bäumen und blühenden Büschen ein Haus aus schlichten Lehmziegeln sichtbar wurde, begriff ich endlich: María glaubte nicht, dass ich kaum Spanisch sprach.
María sprach selbst kaum Spanisch.
Sie sprach Quechua.
Was sind indigene Sprachen?
Wenn ich gefragt werde, was Quechua ist, sage ich oft so etwas wie: »Das war die Sprache der Inka und ist heute noch eine offizielle Amtssprache in Peru.«
Beides stimmt zwar, aber dem Facettenreichtum der Realität wird es nicht ganz gerecht. »Inkasprache« – das klingt nach einer Sprache wie aus inkaischen Steinquadern, alt, massiv, seit Jahrhunderten unverändert. Alt mag Quechua sein, aber keineswegs versteinert. Es eine Sprache großer Vielfalt, voller lokaler Varietäten, die sich teils grundlegend voneinander unterscheiden. Es ist dynamisch wie alle Sprachen, und es ist lebendig. Die Insel Amantaní ist längst nicht der einzige Ort in Peru, an dem man Quechua begegnet.
Quechua ist eine indigene Sprache – also eine, die schon vor der europäischen Eroberung auf dem amerikanischen Kontinent gesprochen wurde. Tatsächlich ist es die meistgesprochene indigene Sprache Lateinamerikas, jedoch bei Weitem nicht die einzige. Die Vielfalt indigener Sprachen auf dem Doppelkontinent ist beeindruckend. Manche werden nur noch von einer Handvoll Menschen gesprochen und sind faktisch vom Aussterben bedroht. Andere, wie Quechua, sind weiter verbreitet und auf lokaler oder nationaler Ebene als Amtssprachen anerkannt.
2019 ist Jahr der indigenen Sprachen – aber was bedeutet das?
Die UNO hat 2019 zum Jahr der indigenen Sprachen erklärt (IYIL2019). Es gibt eine Website dazu, auf der sich wundervoll stöbern lässt. Sie ist nicht nur auf Lateinamerika beschränkt, denn indigene Sprachen gibt es überall: Laut der IYIL2019-Seite sind es weltweit 7.000 in 90 Ländern, wobei 2.680 Sprachen aktuell als bedroht gelten. Das ist nur einer der Gründe hinter IYIL2019. Auf der Website heißt es:
… the United Nations declared 2019 the Year of Indigenous Languages (IYIL2019) in order to raise awareness of them, not only to benefit the people who speak these languages, but also for others to appreciate the important contribution they make to our world’s rich diversity.
Als ich mir Notizen für diesen Blogartikel machte, trug ich Gründe zusammen, warum mir die Beschäftigung mit indigenen Sprachen wichtig ist. Denn in diesem Blog-Quartal habe ich einige Artikel zu indigenen Sprachen und Sprachpolitik in der Pipeline, aber auch zur Situation indigener Menschen speziell in Peru. Beim Blick auf die IYIL2019-Website stellte ich fest, dass meine Gründe im Prinzip auch dort aufgelistet sind (scrolle zu »Why Indigenous Languages?«). Ich zähle meine hier dennoch auf.
Indigene Sprachen sind präsent
Was, wenn ich dir sage, dass auch du ein paar Vokabeln aus indigenen Sprachen kennst?
»Lama« kommt aus dem Quechua, ebenso wie »Kondor« (kuntur) und »Puma« (puma). »Tomate« und »Schokolade« gehen aufs Nahuatl – also das Aztekische – zurück: tomatl und xocoatolli. »Jaguar«, »Maracuja« oder »Ananas« leiten sich aus dem Tupi und/oder dem Guaraní ab.
Nicht weiter überraschend, dass im Zuge der Eroberung indigene Begriffe ihren Weg ins Spanische (oder andere Sprachen der Eroberung) und von dort aus in weitere Sprachen fanden: Schließlich gab es in der »Neuen Welt« eine Reihe von Dingen, die in Europa bislang unbekannt waren. Indirekt heißt das aber auch, dass jede dieser Vokabeln ein Stück Kolonialgeschichte in sich trägt.
(Zur Übernahme indigener Bezeichnungen gibt es allerdings noch ganz andere Geschichten, die nicht selten mit interkulturellen Kommunikationsproblemen zu tun haben. Der Name Yukatan etwa soll sich von einer Maya-Wendung ableiten, die Ich verstehe dich nicht bedeutet – die Antwort der Indigenen auf die Frage der Conquistadoren, wie denn diese Halbinsel hieße.)
Indigene Sprachen drücken Weltbilder aus
In meinem vorigen Blogartikel habe ich erwähnt, dass Aymarasprechende (laut einem meiner peruanischen Dozenten) Vergangenheit und Zukunft anders denken als wir: Während in unserem Sprachgebrauch die Vergangenheit hinter uns liegt, befindet sie sich im Aymara-Weltbild vor uns, da wir sie sehen können – wir haben sie ja bereits erlebt und entdeckt.
Das ist nur ein Beispiel für indigene Weltbilder und Konzepte. Als Ideen existieren diese natürlich auch jenseits der Sprache. Doch letztlich ist es Sprache, die sie überhaupt sichtbar macht. Wie Sprache die Welt behandelt, sagt sehr viel darüber aus, wie die Sprechenden diese Welt wahrnehmen und in Kategorien fassen. Beispielsweise gibt es im Quechua zwei Arten von »wir«: Eines schließt die sprechende Person mit ein, das andere nicht.
(In anderen Sprachen wäre das oft auch nützlich! Einmal übernachtete ich mit einer deutschen Freundin in Lima bei einer peruanischen Familie. Am Abend sagten diese – auf Spanisch – zu uns: »Wir gehen jetzt essen.«
Meine Freundin und ich waren erst einmal etwas ratlos, weil wir nicht sicher wussten, ob wir in diesem »wir« mitberücksichtigt waren … oder ob die Familie uns lediglich in Kenntnis setzen wollte, dass sie uns jetzt alleine ließ. (Spoiler: Natürlich waren wir mitgemeint, und das Essen war sehr lecker.))
Sprache gibt uns die Möglichkeiten, Dinge auszudrücken. Sie beeinflusst damit auch unser Denken und seine Grenzen. Gerade der Blick auf indigene Sprachen kann uns helfen, diese Grenzen zu überschreiten. Dann erkennen wir, dass sich manche Dinge auch ganz anders denken lassen, als wir es gewohnt sind.
Indigene Sprachen sind kein exotisches Gimmick – sie sind lebendig und politisch. Genau wie ihre Sprecher*innen
Dieser Punkt ist mir besonders wichtig. Denn so wahr es ist, dass die Auseinandersetzung mit indigenen Sprachen und Weltbildern unseren eigenen Horizont erweitern kann: Wir sollten nicht den Fehler machen, sie als ein exotisches Gimmick zu sehen. Als etwas, das nur den Zweck erfüllt, aus unserer persönlichen Komfortzone heraus einen Blick auf andere Denkweisen zu werfen.
Für Millionen Menschen – wie María auf Amantaní – sind indigene Sprachen Teil ihrer Lebensrealität. Indigene Sprachen lassen sich nicht unabhängig von ihren Sprecher*innen denken. Sie spiegeln immer auch deren Situation wider. Wenn wir von indigenen Sprachen reden, reden wir auch stets von Menschen, von politischen Machtbeziehungen, von Rassismus und Diskriminierung, vom Zugang zu Bildung und Ressourcen, vom Ringen um Deutungshoheit.
Eine indigene Sprache als Muttersprache zu haben, bedeutet für viele Sprecher*innen (gerade in Lateinamerika) auch einen erschwerten Zugang zu Bildung, Wissen und politischer Teilhabe. Zum Beispiel, weil vielerorts der Schulunterricht nur auf Spanisch stattfindet und wenig Rücksicht darauf genommen wird, ob alle Schüler*innen dem folgen können.
Sprache ist eines der Attribute, die über die eigene Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie mitbestimmen. Indigene Sprachen sind in diesem Zusammenhang oft eine Quelle von Scham und Beschämung. Sie werden verheimlicht und verleugnet, zugunsten von Spanisch (oder dem Erlernen einer Fremdsprache wie dem Englischen) zurückgestellt. Das sind Aspekte, um die es in anderen Artikeln noch gehen wird.
Indigene Sprachen: Respekt statt Aneignung
Sobald ich verstanden hatte, warum María sich mir gegenüber so kurzangebunden gab, öffnete sich eine Tür. Immerhin hatte ich im vorangegangenen Semester einen Quechuakurs besucht. Als wir also später gemeinsam an der Feuerstelle in ihrer Küche saßen – draußen tobten mittlerweile Regen und Wetterleuchten über dem dunklen See –, María mir Tee und Suppe kredenzte und ihr Mann Simón melancholische Lieder auf der Gitarre spielte, konnte ich zumindest einige Grundlagen zusammenkratzen. Ich konnte mit den beiden auf Quechua radebrechen, verstehen, was María mir antwortete und Simón sang. Zwei Semesterwochenstunden zum Sprachenlernen sind kläglich, aber ein Fundament, auf dem sich aufbauen lässt.
Als ich 2007 für ein Auslandssemester nach Peru zurückkehrte, suchte ich mir vor Ort einen Quechuasprachkurs, der mehrmals pro Woche stattfand. Wirklich gemeistert habe ich die Sprache nie, doch es war genug, um hier und da ein Zeichen zu setzen. Die Reaktionen von Quechuasprechenden waren meist nicht nur wohlwollend, sondern positiv überrascht: Sie fanden es erstaunlich, dass sich eine gringa für ihre Sprache interessierte. Ähnliches erlebte ich bei Peruaner*innen, die selbst kein Quechua sprachen und es zum Teil als etwas Minderwertiges, bestenfalls Exotisches betrachteten, das mit ihrem Leben nichts zu tun hatte.
Und nein, ganz klar: Indigene Sprachen (und Sprecher*innen) sind nicht darauf angewiesen, dass privilegierte weiße Europäer*innen daherkommen und Interesse zeigen. Es geht auch ohne uns. (Ich plane noch einen Blogartikel zur White-Savior-Narrative.) Aber vielleicht lässt sich über Respekt und Wertschätzung für indigene Sprachen zumindest ein minimaler Beitrag leisten.
Wo gibt es Zugang zu indigenen Sprachen?
Lust, dich näher mit indigenen Sprachen zu beschäftigen? Am besten ist es natürlich immer, von Muttersprachler*innen zu lernen. Aber da die Möglichkeit nicht immer besteht, hier eine kleine Auswahl anderer Zugänge. Ich nehme auch gern Tipps entgegen, um die Liste zu erweitern!
- Auf IYIL2019 findet sich unter dem Menüpunkt Ressourcen eine Vielzahl spannender Links. Hier kann man zum Teil auch einen ersten Einblick in verschiedene indigene Sprachen (nicht nur lateinamerikanische!) bekommen.
- Wer die Plattform Duolingo nutzt, kann zum Beispiel (auf Englisch) Navajo lernen und auf Spanisch Guaraní (das Amtssprache in Paraguay ist).
- Im Sortiment der Kauderwelsch-Sprachführer gibt es einige Titel zu indigenen Sprachen – unter anderem Quechua, yukatekisches Maya und Nahuatl. Einen tiefgehenden Sprachkurs ersetzen die schmalen Büchlein zwar nicht, für eine erste Idee gerade zum Sprachaufbau sind sie aber empfehlenswert.
- Wer Spanisch beherrscht, kann sich die Seite Kimeltuwe näher ansehen. Sie hält zahlreiche Materialien rund um Mapudungun, die Sprache der Mapuche (Chile), bereit. Es gibt auch eine dazugehörige Facebook-Seite.
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