Quechua ist eine wundersame Sprache. Es gibt Worte für Dinge, die im Deutschen eines eigenen Begriffs entbehren. Eines meiner Lieblingsworte ist ch’allcha – es bezeichnet den Klang beständigen Regens.
Gestern musste ich an dieses Wort denken, denn ich konnte einen Film sehen, der mit genau diesem Klang begann: Beständiger Regen. Ein Film, der im Titel ein weiteres wundersames Quechua-Wort trägt, aus dem eine ganz eigene Kraft spricht: »Sigo Siendo – Kachkaniraqmi«, eine Dokumentation des peruanischen Regisseurs Javier Corcuera.
»Es gibt im Quechua Chanka einen höchst ausdrucksvollen und sehr verbreiteten Begriff. Wenn jemand ausdrücken möchte, dass er trotz allem noch immer da ist, dass er noch immer existiert, dann sagt er: Kachkaniraqmi!« – José María Arguedas
Gesehen habe ich den Film irgendwo in einem Kreuzberger Hinterhof, projiziert an die Wand eines kleinen Ateliers im Kreis eines überschaubaren Publikums, darunter natürlich einige Peruaner. In den Trailer hatte ich mich schon länger verliebt, dazu schwärmten meine peruanischen Freunde via Facebook von diesem Film, gingen teilweise mehrfach ins Kino, um ihn anzusehen. Meine Vorfreude und damit vielleicht auch meine Erwartungshaltung war hoch.
Mit seinem Titel, der übersetzt eben so viel wie »ich bin immer noch da, ich existiere weiterhin« bedeutet, verneigt sich Regisseur Corcuera deutlich in die Richtung von José María Arguedas (1911-1969), dem peruanischen Schriftsteller und Kulturanthropologen, der nicht nur in seinen Romanen den andinen Kulturen und Überlieferungen nachdrücklich Raum gab, sondern sich eben auch kulturanthropologisch damit auseinandersetzte, Material sammelte und zugänglich machte. Doch nicht nur deswegen hätte »Sigo Siendo – Kachkaniraqmi« wohl kaum einen besseren Titel bekommen können.
Auf der offiziellen Webseite des Films heißt es:
»Dieser Film erzählt von Musik und Musikern, aber es ist kein strikter Musikfilm. Es ist ein Film persönlicher Geschichten, augenscheinlich weit voneinander entfernt; Geschichten, die sich in einem Land suchen, das sich ebenfalls zu finden versucht.«
Und diese kurze Synopsis sagt eigentlich schon alles aus. »Sigo Siendo« ist ein Streifzug durch die musikalischen Welten Perus, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Trotz des dokumentarischen Charakters erwartet den Zuschauer keine systematische Einführung in die peruanische Musikszene, und wer den Film ohne großes Vor- und Kontextwissen ansieht, wird vielleicht auf mehr Fragen denn Antworten stoßen. Größen der peruanischen Musik – wie Susana Baca, Magaly Solier, Raúl García Zárate – werden in der Beschreibung angekündigt und treten auch auf, doch ihre Namen stehen zu keiner Zeit – auch nicht als Einblendung – im Vordergrund. Sie fließen in der dokumentarischen Handlung ein oder bleiben ganz dem Hintergrundwissen des Zuschauers überlassen. Dadurch gelingt »Sigo Siendo« ein wundervolles Kunststück: Im Mittelpunkt stehen tatsächlich die Musik und das, was sie für die Menschen bedeutet – gemeinsam mit den Geschichten, die mit ihr verknüpft sind.
»Ich glaube nicht, dass irgendjemand ohne Musik leben könnte. Könntest du ohne Musik leben?« – Rosa Guzmán, limeñische Sängerin
Mehr als eine Dokumentation ist »Sigo Siendo« ein Kunstwerk voll poetischer Schönheit in Bild und Klang, unaufdringlich, einfühlsam und voller Respekt für jene, die es porträtiert. Von Anfang an nimmt der Film sich Zeit. Er beginnt mit einer Aufnahme im amazonischen Regenwald. Grün. Regen. Bestimmt eine Minute lang tut der Zuschauer nichts anderes, als dem Regen zu lauschen: Ch’allcha.
Dabei sind wir vom Quechua in diesem Moment weit entfernt, denn Amelia Panduro, die der Film als erstes einführt, ist Shipiba und spricht entsprechend Shipibo-Conibo. Mit sanftem Lächeln sitzt sie auf der Wurzel eines riesigen Baumes und berichtet wehmütig von einer Vergangenheit, die für immer verloren ist, von ihrer Liebe zum Wasser und ihrer Reise. Zu den Klängen ihres Lieds – die Melodie über Generationen überliefert, die Worte aus Amelias Inspiration geboren – steigt sie in ihr Boot und fährt hinaus auf das Wasser, eingefangen in beinahe schon mystische Bilder zwischen Nebel und diffusem Licht. Der Zuschauer begreift erst im Verlauf des Films, dass Amelia ihn auf diese Reise mitnimmt, dass ihr Lied und das Wasser sich wie ein roter Faden durch den Film ziehen und auf ganz wundervolle Weise Selva, Sierra und Costa verbinden.
»Wann ist Musik gut? Wenn sie gut ist!« – Carlos Hayre, limeñische Musiker und Komponist
»Sigo Siendo« folgt Musik und Musikern auf den Spuren ihrer Geschichten. So begleiten wir den Violinisten Máximo Damián auf seinem Weg nach Chincha, wo die afroperuanische Musik daheim ist und wo er eines verstorbenen Freundes gedenkt, mit dem ihn die tiefe Liebe zur Musik verbunden hat. Wir folgen auch »Palomita«, einer Frau, die sich dem »Scherentanz« von Ayacucho verschrieben hat. Und wir gehen auf einen Streifzug auf den Spuren eines alten, glanzvollen Limas, erfüllt von serenatas und den Klängen der música criolla. All das lose Fäden, die sich immer wieder treffen, zusammenfinden zu einem farbenprächtigen Gewebe. »Sigo Siendo« ist sorgsam durchkomponiert, in Klang wie Bild, verharrt immer wieder, um der Musik ihren Raum zu geben, und skizziert ganz sanft und selbstverständlich auch die Welt, in der sich all das entfaltet: Peru mit seinen Widersprüchen, alten Wunden, Armut, Nostalgie. Anklagend oder um Betroffenheit heischend wird der Film dabei nie. Er bleibt behutsam und unaufdringlich, Humor ist ebenso fein eingewebt wie die Wehmut. 110 Minuten dauert der magische Streifzug durch ein Land voller Musik.
Gänsehaut natürlich, wenn von der Leinwand ein Lied erklingt und eine vor Rührung zitternde Frauenstimme im Dunkel des Vorführungsraums die Melodie aufgreift und mitsingt. »Sigo Siendo« kommt bei aller Sanftheit unglaublich dicht daher, lässt tief eintauchen in Bilder, Klänge und auch vor allem die Geschichten, deren Verlauf der Film folgt. Mehr als einmal hatte ich Tränen in den Augen. Als der Abspann begann, teilten wir im Publikum einen einzigen Impuls: Applaus.
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