Es gibt Bücher und Autoren, die einem nicht auf Anhieb Zugang gewähren. Manchmal ist es, als ob sie auf den richtigen Moment warten. Zuletzt passiert ist mir das mit dem Peruaner José María Arguedas, der am 18. Januar 106 Jahre alt geworden wäre.
»Ich wusste nicht, ob ich mehr den Fluss oder die Brücke liebte …«
– José María Arguedas, Die tiefen Flüsse
In jedem Bereich gibt es Namen, an denen man kaum vorbeikommt. José María Arguedas ist so einer, wenn man sich für peruanische Literatur interessiert. Oder für peruanische Kulturanthropologie. Und da bei mir wenig überraschend beides zutrifft, begegnete ich dem Namen über Jahre hinweg immer wieder, vom Reiseführer bis zur Vorlesung.
»Im Innersten ein Indígena«
José María Arguedas, geboren 1911 in Andahuaylas in den peruanischen Anden, ist vor allem als Schriftsteller bekannt – obwohl nur etwa zwölf Prozent seiner Werke Romane und Erzählungen sind. Vorrangig war er Forscher und Kulturanthropologe, sammelte Mythen, Lieder, Dichtungen aus den Anden, übertrug sie aus dem Quechua ins Spanische, beschäftigte sich mit Traditionen und Kulturwandel. »Ich habe«, schreibt er dazu in einem Essay, »keine Poesie gefunden, die meine Gefühle besser ausdrücken könnte als jene der Quechua-Lieder …«*
Er wuchs im Ländlichen auf den Haciendas von Stiefmutter und Tante auf, während sein Vater als Anwalt umherreiste. Der kleine José María verbrachte viel Zeit mit den einfachen, quechuasprachigen Bauern. Später begleitete er seinen Vater auf dessen Reisen, studierte in Lima Literatur und Ethnologie und arbeitete als Lehrer und Beamter. Nach schweren Depressionen nahm er sich 1969 das Leben.
»Was bin ich?«, sagte er nur wenige Monate vor seinem Tod in einem Interview mit dem argentinischen Schriftsteller Ariel Dorfman. »Ein zivilisierter Mann, der aber in seinem Innersten nie aufgehört hat, ein Indígena Perus zu sein; Indígena, nicht Indio. Und so bin ich durch die Straßen von Paris und Rom, von Berlin und Buenos Aires gewandert. Und wer mich singen hörte, hörte vollkommen unbekannte Melodien von großer Schönheit …«**
Ich hörte ihn tatsächlich auch einmal singen – im Frühjahr 2014, als ich inmitten von Peruanern in einem provisorischen Berliner Garagenkino die Musikdokumentation Sigo Siendo (Kachkaniraqmi) sah. Da wurde eine alte Tonbandaufnahme eingeblendet, Arguedas, der einen Huayno sang. Gänsehaut pur, vor allem, weil alle um mich herum ihn sofort erkannten und einander zuflüsterten: »Das ist Arguedas!«
Ich hörte ihn also singen, aber wirklich gelesen hatte ich ihn noch nicht. Ich hatte es ein paar Mal versucht, aber seine Romane blieben verschlossene Türen.
Ein Buch taucht am Wegrand auf
Bis ich im Frühjahr 2015 wieder nach Peru reiste. In Tacna an der chilenischen Grenze besuchte ich Paola, eine alte Freundin, die mittlerweile als Lehrerin arbeitete. »Ich muss noch was für morgen vorbereiten«, sagte sie, »morgen ist Tag der andinen Musik, da will ich mit den Kindern über Arguedas sprechen.« Wir saßen auf Paolas Bett, ihren Laptop vor uns, und sahen uns eine Dokumentation über Arguedas’ Leben an. Aus dem Namen, aus der unbekannten Stimme aus dem Off, wurde plötzlich ein Mensch. Und plötzlich hatte ich Lust, Arguedas zu lesen.
Los Ríos Profundos (»Die tiefen Flüsse«) war der Titel, der mir aus der Dokumentation besonders im Gedächtnis geblieben war. Vielleicht, weil der Roman von den Reisen des kleinen José María mit seinem Vater inspiriert sein sollte. Ein paar Tage später entdeckte ich den Titel in einer Buchhandlung in Arequipa und griff sofort zu. Reiselektüre, dachte ich irgendwie, ich würde bald nach Cusco fahren und war nicht recht motiviert: Ich hatte Cusco immer gern haben wollen, aber so vieles an der alten Inkahauptstadt ist heute so massiv auf touristischen Kommerz ausgerichtet, dass sie es mir wirklich nicht leicht macht.
Zunächst aber war ich noch in Arequipa. Mit dem gekauften Buch in der Tasche setzte ich mich in das beschauliche kleine Café, das auch zu meinen Neuentdeckungen in jenem Jahr gehörte: ein Lesecafé, das für die Gäste neben zahlreichen schönen Fotobildbänden auch einige Romane bereithielt. Ich bestellte einen Kaffee und inspizierte auf gut Glück den Bücherstapel. Was lag ganz oben? Ihr ahnt es.
Ich weiß gar nicht mehr, ob ich mein eigenes Exemplar oder das des Cafés zuerst aufgeschlagen habe. Aber auf jeden Fall ließ das Buch mich ein. Der Ich-Erzähler, ein Junge von vierzehn Jahren, reist mit seinem Vater nach Cusco. Und während der Vater nur einen reichen Verwandten um Geld bitten will, ist der Junge zutiefst aufgeregt. Cusco, die Stadt seines Vaters! Er will die Inkamauern sehen – viel lieber das, als in der Kathedrale zu beten, von der er sich aber fragt, ob der Regen sie wohl berühren kann. Doch am meisten beeindrucken ihn eben die alten Steinmauern.
»Ob man wohl yawar rumi sagen konnte, Blutstein (…)? Die Mauer selbst war statisch, aber in ihren Linien kochte es, ihre Oberfläche veränderte sich wie jene der Flüsse im Sommer. Sie haben auch eine solche Oberfläche, in der Mitte des Stroms, und das ist der furchtbarste Teil, der machtvollste. Die Indios nennen diese trüben Flüsse yawar mayu [Blutfluss], weil die Sonne ihnen ein bewegtes Glitzern verleiht, das dem Blut ähnelt …«
(…)
›Papá‹, sagte ich. ›Jeder Stein spricht. …‹«
– José María Arguedas, Die tiefen Flüsse
Am Ende reiste ich mit José María nach Cusco. Und es war gut so. Das Buch hatte mir einen Blick auf diese Stadt zurückgegeben, den ich verloren geglaubt hatte. Und mehr als das. Ein bisschen fühlte es sich an, als hätten Arguedas’ Werke genau auf diese eine Reise gewartet, um zu mir zu finden.
Mittlerweile habe ich mehr von ihm gelesen, wenn auch noch nicht alles. Manchmal ist es wie eine Reise zurück in die Anden, wo wilde Flüsse unter Steinbrücken singen. Arguedas schreibt schlicht, aber kraftvoll und klar, malt Bilder mit einfachen Worten. Ob das im Deutschen funktioniert, oder ob seine Worte die gleiche Kraft entfalten, wenn man noch nie in Peru war? Ich weiß es nicht. Aber ich bin dankbar, dass seine Werke mir endlich ihre Pforten geöffnet haben.
________________
*zitiert aus: José María Arguedas 2014 (1938): Ensayo sobre la capacidad de creación artística del pueblo indio y mestizo, in: Ders.: Canto Kechwa. Editorial Horizonte, Lima. Übersetzung meine.
** zit. im spanischsprachigen Wikipediaeintrag zu Arguedas; Übersetzung meine.
Zitate aus Los Ríos Profundos ebenfalls von mir ins Deutsche übertragen.
Oh, das klingt schön. ^///^ Gibt es dann dazu deutsche Übersetzungen?
Manchmal glaube ich, dass wir zu viel verlieren, wenn wir so viele amerikanische Literatur lesen. Und dass Übersetzen selbst ein Verlust ist. Schade, dass ich nur so wenige Sprachen spreche. (Wenn mal so eine Wunschfee vorbei fliegen würde, dann wäre, alle Sprachen dieser Welt sprechen und verstehen zu können, schon unter den Top 3.)